Das Konzept des "hidden curriculum", im Folgenden als verdecktes Curriculum übersetzt, ist geeignet, um zu verstehen, wie moralische Wertvorstellungen in die Schulorganisation und die Klassenzimmerroutine eingebettet sind. Weiterhin werden die Auswirkungen auf die Identitätsbildung von Kindern in den Blick genommen. Das Konzept hilft uns, über die Widersprüche der Schulbildung nachzudenken, indem es die Aufmerksamkeit darauf lenkt, wie die Bemühungen, Werte demokratischer Gleichheit zu vermitteln, auch zur Aufrechterhaltung von Hierarchien bzw. zur Schlechterstellung anderer Wissensformen führen können.
Generell gilt, dass das verdeckte Curriculum ein nicht eindeutig definiertes Konzept ist. Fragen lässt sich, wie ein Curriculum "verdeckt" wird, wer es vor wem verschleiert und warum. Da im Begriff der Prozess der Verdeckung mitschwingt, wird das Konzept häufiger verwendet, um eher negative als positive Folgen der Schulbildung aufzudecken. Weiterhin basiert es auf keiner ausformulierten Lerntheorie, somit sind die meisten Analysen stark kontextabhängig und lassen sich oft nicht verallgemeinern. Trotz dieser Einschränkungen beziehen wir das Konzept hier mit ein, um zum Nachdenken über die Rolle von Schulen anzuregen und die wichtige Frage in den Raum zu stellen: Wie lernen Kinder Dinge, die nicht explizit gelehrt werden?
Um das Fortbestehen widersprüchlicher und ungewollter Eigenschaften der Gesellschaft zu erklären, unterschied Robert Merton (1956) zwischen manifesten (beabsichtigten) und latenten (unbeabsichtigten) Funktionen, um auf die vielen indirekten oder impliziten Folgen der Handlungen von Menschen aufmerksam zu machen (Helm 1971). Ausgehend von Deweys Begriff des "kollateralen Lernens" und Dreebens "ungeschriebenem Curriculum" prägte P. W. Jackson (1968) den Begriff des verdeckten Curriculum, um die impliziten Botschaften zu erforschen, die durch alltägliche Klassenzimmerroutinen vermittelt werden (Cornbleth 1984: 35). Sein Ziel war es zu untersuchen, wie Schüler*innen moralisch durchdrungene Routinen erleben und wie Lehrer*innen ihre Bewertungs- und Disziplinierungsautorität ausüben.
Jackson argumentierte, dass Schüler*innen, um in der Schule erfolgreich zu sein, nicht nur die offiziellen, sondern auch die verdeckten Curricula meistern müssen (1968: 33-34). Sie müssen sich gleichzeitig durch eine Vielfalt an Erwartungen navigieren, unter anderem die akademischen Anforderungen, die soziale Beziehungen in überfüllten Klassenzimmern, die laufende Evaluierung durch Lehrer*innen sowie die pädagogische Autorität der Lehrer*innen (1968: 35-36).
Das Konzept des verdeckten Curriculums war insbesondere in den 1970-1980er Jahren in kritischen Studien über die Rolle der Schule als wirtschaftliche und politische Institution populär. In "Social Education in the Classroom: The Dynamics of the Hidden Curriculum" stellen Giroux und Penna (1979) die naive Vorstellung in Frage, dass Lehrplanreformen allein anhaltende Lehr- und Lernprobleme lösen können. Sie definieren das verdeckte Curriculum als unausgesprochene Normen, Werte und Überzeugungen, die den Schüler*innen sowohl im formalen Lehrplaninhalt als auch im alltäglichen Klassenzimmer vermittelt werden (1979: 22). Wenn sie stillschweigend als objektives Wissen und unhinterfragte Wahrheiten vermittelt werden, untergraben ungeprüfte kulturelle Voreingenommenheiten und ideologische Positionen potenziell demokratische Bildungsziele und dienen der sozialen Kontrolle (1979: 21-22).
In Bezug auf soziale Kontrolle argumentiert Vallance, dass diese schon immer ein Merkmal der öffentlichen Schulbildung war und oft als vorteilhaft für ihren Beitrag zum gesellschaftlichen Zusammenhalt angesehen wurde. Angesichts der Tatsache, dass alltägliche Schulroutinen keineswegs verdeckt, sondern offen durchgeführt werden, vermutet Vallance, dass die "Entdeckung" des verdeckten Curriculums in den 1960er Jahren eher damit zu tun hatte, dass die "Kontrollfunktion" der Schule in den damaligen Grundüberlegungen zur öffentlichen Bildung überholt war (1973: 4f).
Unter Verwendung des Begriffs des verdeckten Curriculums im Sinne einer "verborgenen Agenda" haben sich Studien mit pädagogischen Paradoxien befasst, z.B. mit der Frage, wie öffentliche Schulen soziale Gleichheit propagieren und gleichzeitig Hierarchien reproduzieren, die auf sozialer Klasse, Rasse und Geschlecht beruhen. In jüngerer Zeit wurde das Konzept des verdeckten Curriculums ferner auch in kritischen Studien der Medizin, der Naturwissenschaften, der Musik und der Sporterziehung eingesetzt, um implizite spezifische Vorurteile und normative Wertvorstellungen zu untersuchen.
Ähnlich wie bei Konzepten wie "Kultur" und "Diskurs" gibt es ein "verdecktes Curriculum" nicht "da draußen" zu entdecken. Es handelt sich um ein theoretisches Konzept, welches aus beobachtbarer sozialer Interaktion abstrahiert wurde. Als Untersuchungsbereich ist es nützlich, um erstens über die Beziehung zwischen Schule und Gesellschaft und zweite über die Metakommunikation (Bateson 1972) nachzudenken, also über das, was "zwischen den Zeilen" vermittelt wird. Der Versuch, klare Grenzen zwischen offiziellen und verdeckten Curricula zu ziehen, ist jedoch oft schwierig, wie im Folgenden diskutiert wird.
Das verdeckte Curriculum wurde als "ungeschriebenes, "unstudiertes", "latentes", "implizites" und "verdecktes" "nicht-akademisches Ergebnis", "Nebenprodukte" oder "sekundäre Folgen" der Schulbildung umschrieben (Valance 1973-4: 6-7). Dieses konzeptuelle Durcheinander macht es schwierig, festzustellen, was das Konzept ausmacht, welche Wirkung es hat und nach welchen Mechanismen es funktioniert. So fragt Dreeben: "Wenn das ungeschriebene Curriculum wirklich ungeschrieben ist, versteckt, implizit und latent, woher wissen wir dann, dass es da ist und eine Wirkung hat, auf die wir achten sollten? (1976: 114). Für ihn war der "ungeschriebene Lehrplan" eher eine bequeme Abkürzung für kulturelle und strukturelle Aspekte des Schulunterrichts und für die Tatsache, dass Kinder so auf Denkweisen, soziale Normen und Verhaltensprinzipien schließen (1976: 112). Wenn Schulkinder zum Beispiel ihre schulische Umgebung beobachten, um Modi und Grenzen geeigneten Verhaltens zu beurteilen, werden sie wahrscheinlich herausfinden, dass Ersatzlehrer*innen keine "richtigen" Lehrer*innen sind und daher nicht mit vergleichbarem Respekt behandelt werden müssen.
Die "Entdeckung" des verdeckten Curriculums basierte auf dem Vorwurf, dass Schulen systematisch mehr lehren als den reinen Inhalt ihrer Fächer (Valence 1973-4: 5). Doch dies trifft auf Menschen im Allgemeinen zu. Weil Worte zwangsläufig die Komplexität des Handelns reduzieren, tun Menschen immer mehr, als sie vorgeben zu tun. Wenn Sie versuchen, "alles, was in einem Klassenzimmer zu einem bestimmten Zeitpunkt vor sich geht", zu beschreiben, stellen Sie bald fest, dass Sie unmöglich alle Handlungen und Auswirkungen von Handlungen, die Ihre Sinne wahrnehmen, in Worte fassen können. Indem wir jedoch auf einige der Diskontinuitäten zwischen Handeln und Sprechen (und auf die Beziehungen zwischen ihnen) achten, erhalten wir Anhaltspunkte für die Sinnhaftigkeit einer gegebenen Situation.
Ein verdecktes Curriculum soll vorgeblich dazu dienen, moralische Werte zu vermitteln, Gehorsamkeit zu fördern und die Kinder auf eine Weise zu sozialisieren, die etablierte Klassen- und Geschlechtsstrukturen aufrechterhält. Die Idee dahinter ist, dass Formen der sozialen Kontrolle, die in der Organisation und dem Tagesablauf einer Schule eingebettet sind, die Kinder über moralische Wege des Seins in der Welt "anleiten". Indem diese Strukturen die Verhaltens- und Denkmuster von Kindern prägen, bieten diese Strukturen bestimmte Versionen der Welt an und stellen die Kinder vor "praktische Probleme", die sie berücksichtigen müssen. Solche "Probleme" können z.B. die Frage sein, ob man sich vordrängelt, um mit einem guten Freund zusammen zu sein, oder ob man seine Trauben mit allen am Tisch oder nur mit Louise teilen soll. Dazu kann auch gehören, herauszufinden, wie man denkt und wie man sich fühlt, wenn einem gesagt wird, dass man sich "seinem Alter entsprechend verhalten" soll oder dass man "hinterher hinkt". Außerdem gehört es immer dazu, herauszufinden, ob man bei Diskussionen im Klassenzimmer, bei denen die Gefahr besteht, dass Unterschiede im Familienhintergrund sichtbar werden, die einen Unterschied machen, "den Mund aufmachen" oder "sich bedeckt halten" soll.
Ein oft beobachtetes Dilemma der Schulbildung ist, dass Reformen oft nicht die erwünschten Veränderungen herbeiführen, sondern kaum mehr als ein Herumbasteln am Status quo sind. Um diesen Zustand zu erklären, greifen einige Wissenschaftler auf das Konzept des verdeckten Curriculums zurück. Trotz der genannten Problematiken im Hinblick auf das Konzept thematisieren die Studien oft Situationen, die jede*r Lehrer*in kennt und die Aufmerksamkeit erfordern.
In dem Artikel "Critical Race Theory, Multicultural Education and the Hidden Curriculum of Hegemony" erörtert Michelle Jay (2003) die Rolle des verdeckten Curriculums in der Bildung und argumentiert, dass es "Bildungseinrichtungen in die Lage versetzt, für multikulturelle Initiativen zu argumentieren und gleichzeitig die Umgestaltungsmöglichkeiten der multikulturellen Bildung zu unterdrücken" (2003: 3, eigene Übersetzung). Jay beschäftigt sich mit den pluralistischen Bemühungen in den USA, die Lehrpläne für Sozialkunde zu überarbeiten, um sie repräsentativer für die sich verändernde Bevölkerung zu machen. Ziel ist es, Rassismus zu bekämpfen, Vorurteile und Diskriminierung abzubauen, Chancengleichheit und soziale Gerechtigkeit für alle zu schaffen und Kindern das Wissen, die Einstellung und die Fähigkeiten zu vermitteln, um in einer vielfältigen Nation und Welt zu leben. Doch wie Jay anmerkt, hat die multikulturelle Bildung trotz ihrer dreißigjährigen Geschichte und einiger bedeutender Fortschritte immer noch Mühe, einen bleibenden Einfluss auf das amerikanische Bildungswesen auszuüben (2003: 4).
Ausgehend von kritischen Theorien zu Herrschaft bezeichnet Jay das verdeckte Curriculum als ein Instrument zur Dominanz, das trotz der guten Absichten der Reformer*innen "multikulturelle Initiativen wieder in das System hineinsaugt" und grundlegende Änderungen der gegenwärtigen Ordnung verhindert (2003: 4, eigene Übersetzung). Auf die Frage nach der Rolle des verdeckten Curriculums für das Versagen der US-Schulen, minorisierte Schüler*innen angemessen zu unterrichten, stellt Jay fest, dass die durch multikulturelle Initiativen hervorgerufenen Veränderungen Machtverhältnisse gefährden könnten, die Weiße privilegieren. Anstatt Maßnahmen zur Aufrechterhaltung dieser Machtposition als einfache Herrschaft von oben zu betrachten, konzentriert sich Jay auf sogenannte "hegemoniale Strategien", die darauf abzielen, die Einhaltung zu sichern. Angesichts der Vielfalt der amerikanischen Bevölkerung kann man die multikulturelle Erziehung nicht von der Hand weisen. Sie kann jedoch auf eine Weise integriert werden, die lediglich formal ist und jede wirkliche Infragestellung eines Systems verhindert, das rassistische, sexistische und klassenmäßige Unterdrückung fortbestehen lässt (Jay 2003: 6).
Somit stellt Jay das "verdeckte Curriculum", das die "Werte, Einstellungen, Ideen, Ziele und die kulturellen und politischen Bedeutungen der dominanten Klasse" in den Mittelpunkt der Funktionsweise von Schule. Mit der These, dass diese Funktionsweisen die von pluralistischen Initiativen angestrebten Reformen durchkreuzen und damit das Privileg der Weißen Mehrheit aufrechterhalten, liefert Jay ein plausibles theoretisches Argument. Ein Kritikpunkt ist leider, wie häufig in der Literatur beobachtbar, dass Sie nur sehr wenige ethnographische Beispiele dafür liefert, wie dies in der Praxis tatsächlich funktioniert.
Stillschweigendes Wissen, doing school, kulturelle Modelle, Hegemonie, Enkulturation, Reflexivität
Bateson, G. (1972) ‘A Theory of Play and Fantasy.’ In Steps to an Ecology of Mind: Collected Essays in Anthropology, Psychiatry, Evolution, and Epistemology. University of Chicago Press.
Cornbleth, C. (1984) ‘Beyond Hidden Curriculum?, Journal of Curriculum Studies, 16:1, 29-36,
Dreeben, R. (1976) ‘The Unwritten Curriculum and Its Relation to Values.’ Journal Of Curriculum Studies, 8(2): 111-124.
Giroux, H.A. and A.N. Penna (1979) ‘Social Education in the Classroom: The Dynamics of the Hidden Curriculum.’ Theory & Research in Social Education, 7(1): 21-42.
Helm, P. (1971) ‘Manifest and Latent Functions.’ The Philosophical Quarterly 21(82): 51-60.
Jackson, P.W. (1968) Life in Classrooms. New York: Holt, Rinehart, & Winston.
Jay, M. (2003) ‘Critical Race Theory, Multicultural Education, and the Hidden Curriculum of Hegemony.’ Multicultural Perspectives: An Official Journal of the National Association for Multicultural Education. 5(4): 3-9.
Vallance, E. (1973-4) ‘Hiding the Hidden Curriculum: An Interpretation of the Language of Justification in Nineteenth-Century Educational Reform. Curriculum Theory Network. 4(1):5-21.
Sally Anderson (Dänemark)
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